Brief an Maximilien Rubel am 11. Oktober 1951 von Anton Pannekoek

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Vorwort

Man hat mich gefragt online diesen Brief von Pannekoek[1] zu transkribieren. An wenigen stellen mag ich ein Wort falsch transkribiert haben, jedoch sollte das Transkript im Kern richtig sein. Die originale Orthographie wurde beibehalten an den meisten stellen, sie wurde nur da verändert wo das Lesen stark beeinträchtigt gewesen wäre. Die Fußnoten wurden von mir angefügt um extra Kontext für diesen Brief zu geben, sie sind nicht im Original, es sind weniger Fußnoten in der englischen Übersetzung, weil die Fußnoten die auf die Sprache verweisen beim Text der Übersetzung mit eingesetzt wurden. Wenn man selbst die originalen Briefe lesen willst kann man die im Anton Pannekoek Archiv besichtigen und wenn du diesen spezifischen Brief lesen wollen kannst du ihn hier besichtigen. Der Text wurde von der Person übersetzt die die Transkription dieses Briefes beauftragt hat, diese Person hat es mir erlaubt die Übersetzung zu veröffentlichen will jedoch anonym bleiben.

Transkript

Zeist (Holland) 11. Oktober 1951 Lieber Genosse Rubel[2],

In Ihrem Brief[3] vom 13 Sept werfen sie so viele Fragen auf und schneiden so viele Objekte an, dass ich kaum im Stande bin auf alles einzugehen und mich auf einige Punkte beschränken muss, sie betreffen zumeist die Begriffsbildung und Namensgebung; während wir, wie ich glaube, in der Sache selbst ziemlich einig sind, tritt jedes mal eine Verschiedenheit der Nomenklatur hervor. Sie sind geneigt alles, wo Menschen einem Ziel nachsehen, als Gebiet der Ethik zu bezeichnen, während ich meine dass das nicht die wirkliche Bedeutung von Ethik ist (Ich verweise in einem vorherigem Brief auf den Bauer der sich als Ziel setzt seinen Acker zu bauen)[4]. Die Ethik wird (sehe Kant: du sollst[5]) in der bürgerlichen Welt von einer mysteriösen Ursache (zB Gott) abgeleitet; der Marxismus erklärt sie als Ausfluss der Gesellschaft, soziales Produkt; es ist die "materialistische" Methode solche geistige Erscheinungen aus der westlichen Welt zu erklären. Dabei geh sie aus von allbekannten menschlichen Anlagen die sie verfremdet; sie zu erklären ist nicht ihre Aufgabe und sie verweist auf die Anthropologie, anknüpfend an die Biologie, die die Entstehung aus der Tierwelt erklärt. Sie glauben bei mir einen verborgenen ethischen Standpunkt zu entdecken in einem Wörtchen „muss“. Da haben Sie sich geirrt. Ich schrieb über die sozialen Triebe der Tiere, und sagte: um aus diesem die Ethik entstehen zu lassen, muss noch etwas hinzukommen; Das ist also eine Definitionsfrage, eine Frage der Sprachlogik: Damit ein Stück Eisen ein Hammer wird, muss ein Stiel daran sitzen; sonst ist es kein Hammer; ist das Ethik? Das „etwas“ Das zu dem sozialen Trieb (des Tieres) hinzukommen muss, um (bei dem Menschen) Ethik zu heißen, ist das Begriffliche Denken. Das ist gemeint (wohl auch zum Ausdruck gebracht in meinem Brief?) mit dem Satz, aus dem Sie meinen „ethischen Standpunkt“ herauslesen glaubten.

Wenn Sie die Bezeichnung idealistisch auf Marx[6] anwenden wollen, so muss in dem landläufigen Sinn der Bürger der materialistisch den Hang nach gutem Essen und Trinken nennt, und idealistisch, das man Ideen und Ideale hat. Marx benutzt diese Worte jedoch im philosophischem Sinn, wobei (sein eigener) Materialismus bedeutet, dass die Ideen und Ideale nicht aus mysteriösen Quellen sondern aus der Wirklichkeit, namentlich der Gesellschaft stammen. Dass die Menschen Werturteile aufstellen ist für Marx und jeden Marxisten etwas selbstverständliches; Diese Werturteile bestimmen ja nach unserer materialistischen Auffassung, das Handeln der Menschen, und da sie (diese Urteile) sich selbst durch die Lebensverhältnisse, hauptsächlich Ökonomie, bestimmt werden, bilden sie einen Verbindungsfaden zwischen Bedürfnissen und Arbeitsprozess, sind also ein wesentliches Element in dem Historischen Materialismus[7]. Es ist nichts ideologisches daran.

Sie schreiben: wenn ich "Klassensdiktatur" sage, so ist das ein reines Postulat.[8] Sie wissen, die bürgerliche Philosophie wirkt viel mit "Postulaten", Forderungen, wo ihr die Erkenntnis abgeht. Für den Marxismus ist Klassensolidarität kein Postulat, keine Forderung die wir stellen, sondern eine Tatsache, die wir studieren, eine entstehende, wachsende Tatsache, die aus Klassenkampf Bedürfnissen erklärt werden kann, deren Ursachen wir also an jener Stelle untersuchen, und von der wir erwarten, dass sie zunehmen wird, besonders unter speziellen Bedingungen, und künftig eine große Rolle in dem Befreiungskampf spielen wird. Sie werden sagen: aber die Arbeiter stellen sie als Forderung an einander. Gewiss; deshalb gehört sie zum Gebiete der Ethik, und als solches wird sie vom Marxismus studiert. Dass aber Ethik so stark mit Mahnung, Forderung, "du sollst", durchsetzt ist (und daher ihre Theorie mit Postulaten), liegt wohl daran, dass die bürgerliche Welt ganz unter dem Zwiespalt zwischen Tat und Sollen bedrückt liegt (unvermeidlich, schließlich begründet im Doppelcharakter[9] der Ware); und die Mahnung der Arbeiter zu einer ist der Versuch, bei ihnen den ererbten bürgerlichen Individualismus sowie die neue Einsicht in die eigenen Klassenbedürfnisse zu überwinden.

Was sie S.315 u. ff. in den Pages Choisies[10] geben, habe ich gelesen ohne darin etwas zu finden, das in Widerspruch zu meinen alten Auffassung des Hist. Materialismus stehen würde. Obgleich ich sie gar nicht besitze und kenne, also nicht die eigenen Worte von Marx lesen kann, sondern nur die Übersetzung, die natürlich nit[11] genau dasselbe wiedergibt, sehe ich in seinen Ausführungen über das Verhältnis der Menschen zueinander und zu der Menschheit, vorher, und nachher unter dem Sozialismus, genau all dasjenige was wir immer dabei gemacht haben, nur so viel breiter und tiefer und reicher dargestellt, mit dem frischen Enthusiasmus des ersten Entdeckers in diesem neu entschlossenen Felde: So was da steht über das Ausbeuten der Menschen für einander, unbewusst in der Form der Ware, haben wir selbst wiederholt in Vorträgen, Kursen, vielleicht auch wohl in erklärendes Artikeln dargestellt, natürlich sehr viel nüchterner. Welche trockene Vorstellung, des H.M. müssen sie doch erhalten haben, dass sie meinen, dies wäre ein anderen Marx als den wir aus seinen publizierten Werken kennen. Die "Jugendschriften" haben den Reiz, dass sie uns den suchenden und singenden Marx zeigen, der mit seinem Geiste das ganze Feld der Menschheitsgeschichte durchschweift, jetzt mit seinem goldenen Schlüssel alle Pforten öffnend oder besser: mit seinem Licht alles erhellen, und die Welt in ihrem vollen Reichtum erblickt.

Sie wollen, scheint es, Engels[12] für eine mehr verflachte spätere Auffassung des Marxismus verantwortlich stellen. Zweifellos war Engels ein viel weniger genialer philosophisches Kopf; ihm fehlte etwas von der Breite und Tiefe die wir in Marx finden. Aber im Prinzip des Hist. Mat steht er ganz auf dem Marx'schen Standpunkt (Was Marx in seiner jüngen Zeit über das Verhalten von Mensch und Menschheit schrieb, findet man in einfacher kühler Sprache nachher in der Anti-Dühring[13]: damit schließt die Vorgeschichte der Menschheit ab; Sprung Notwendigkeit-Freiheit) Die "Naturdialektik"[14] finde ich ähnlich wie sie: glänzende Stellen, die seine gründliche Kenntnisse zeigen, aber vieles auch unhaltbare Behauptungen, wo er der Wissenschaft Voraussagungen machen will (es misslingt immer wenn man aus philosophischen Gründen naturwissenschaftliche Voraussagen macht; so Descartes[15], Hegel[16], Aug. Comte[17]) und in seinen letzten Aussagen (in den publizierten Briefen) kommen Stellen vor, die einen gewissen deutschen Nationalismus[18] atmen. Übrigens können die Hegelischen "Dialektik" Methoden uns sehr wenig gegen die Moderne Naturphilosophie[19] helfen; das war schon um 1890 so, und seid 1900 noch viel mehr; da braucht man ganz andere Erkenntnis. Theoretische Erörterungen; was die Russen[20] da mit ihrem sogenannten Marxismus ausrichten ist jämmerliches Gewäsche.

Ich erhielt Ihren Aufsatz über den Marx-Nachlass und Rjasanow[21][22]; besten Dank. Ich sehe die Sache nicht so ganz pessimistisch. Es ist nicht wahrscheinlich dass man in Moskau aus einer Art Marx-Hass das zusammengebrachte Archiv vernichten wird. Erstens ist die ganze Erziehung dort auf Lippenerkennung des Marxismus gegründet; außerdem sind speziell die Jugendschriften, worin Marx noch als radikaler bürgerlicher Oppositonsmann auftritt, gerade für den Leninismus wertvoll. Man wird sich begnügen mit einer Einstellung der Publikation. Es ist ganz gut möglich. dass man nachher das Archiv ebenso nahezu unverletzt antreffen wird wie man nach 1945 in Berlin die aus Amsterdam geraubten Judaica und sozialistischen Archivstück nahezu unverschont zurück fand, trotz des aktiven Hasses des NatSoz.[23] gegen beide, Sozialismus und Judentum.

Sie fragen nach einem Verzeichnis meiner Veröffentlichungen. Es würde mir vieles Nachsuchen kosten; es einigermaßen vollständig zusammenzustellen. Es ist nicht viel dabei was einem Verleger imponieren könnte; regelrechte Bücher habe ich über Sozialismus nie publiziert, bevor neulich die Arbeiterräte[24], 1946 holländisch und 1950 englisch erschienen also auch, was ich philosophisch schrieb beschränkt sich auf einige Zeitschrift-Artikel. Es sind zumeist Artikel über den Hist. Mat. und tragen oft dies als Titel. Es ist wohl nicht nötig diese nachher zu erwähnen; aber ich will mal nachsuchen was ich finden kann. Sobald es nötig erscheint — d.h. wenn eine französisch Ausgabe der Leninkritik[25] wirklich erscheinen wird — kann ich dafür sorgen. Auch einige Jahreszahlen als biographische Daten kann ich dann hinzufügen.

Mit freundlichen Grüssen
ergebenst
Antonie Pannekoek
  1. Anton Pannekoek (auch Antonie Pannekoek) (1873-1960), Niederländischer Rätekommunist und bedeutender Leninkritker sowie auch Astronom.
  2. Maximilien Rubel (1905-1996), Österreichischer Rätekommunist und einer der ersten Marxologen.
  3. Der Brief auf den sich Pannekoek bezieht ist der, der an ihn geschrieben wurde von Maximilien Rubel am 13. September.
  4. Der Brief auf den sich Pannekoek bezieht ist der, den er an to Maximilien Rubel geschrieben hat am 10. August.
  5. In "Grundlegung der Metaphysik der Sitten", baut Immanuel Kant das Fundament seiner "Pflichtethik" auf, die Besagt das alle Ethik aus Pflichten besteht die in Maximen formuliert werden, diese müssen in einem "Sollen" Satz (imperativ) ausgedrückt sein bsp. "Man soll nicht Lügen".
  6. Karl Marx (1818-1883), Deutscher Kommunist und der wichtigste Philosoph der Arbeiter\*innen Bewegung.
  7. Historischer Materialismus wird in diesem Text auch als Hist. Materialismus, Hist. Mat. und H. M. abgekürzt
  8. Der Brief auf den sich Pannekoek bezieht ist wieder der ann ihn geschrieben wurde von Maximilien Rubel am 13. September.
  9. Der Doppelcharakter der Ware ist die dialektische Beziehung zwischen Nutzwert und Tauschwert die in einer Ware enthalten ist, Marx beschreibt diese Beziehung in Kapitel 1 von "Das Kapital".
  10. "Pages Choisies" ist ein Französischer Begriff der verwendet wird um eine Sammlung von kleineren Textem zu beschreiben, diese Textsammlung auf die sich Rubel bezieht ist eine Zusammensetzung der Texte des "jungen" Marx, welche Texte es sind die sich in dieser Sammlung befinden ist uns unbekannt.
  11. Abkürzung von "nicht"
  12. Friedrich Engels (1820-1895), Deutscher Kommunist und lebenslanger Freund sowie Unterstützer von Karl Marx.
  13. "Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft" auch "Anti-Dühring" genannt ist ein Werk von Friedrich Engels welches 1877 veröffentlicht wurde, es behandelt viele Fragen zum Materialismus.
  14. "Dialektik der Natur" ist ein unvollständiges Werk von Engels welches nach seinem Tod veröffentlicht wurde und eine Zusammensetzung von mehreren Manuskripten ist, das Werk behandelt ähnliche Fragen wie Anti-Dühring.
  15. René Descartes (1596-1650), Französischer Rationalist und oft der erste Philosoph der Moderne genannt.
  16. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Deutscher Idealist und Vorvater des Modernen Verständnis der Dialektik.
  17. August Comte (1798-1857), Französischer Mathematiker und Gründer des Positivismus.
  18. Friedrich Engels hatte schon immer Tendenzen die eine deutsch nationalistische Position annahmen (bsp. Briefe aus 1848, 1852, 1867, etc.), seine Meinung zum Deutschen Nationalismus hat sich im laufe seines Lebens verstärkt und er verstand den Deutschen Nationalismus als "Bollwerk" gegen "Pan-Slawismus", in einem Brief an Friedrich Adolph Sorge sagte er das sich die deutschen Sozialist\*innen auf die Seite des deutschen Nationalstaates stellen sollen um den Staat gegen Russland zu verteidigen.
  19. Die Naturphilosophie war ein Zweig der Wissenschaft die Versucht hat mit den philosophischen und logischen Konzepten des Deutschen Idealismus die Natur zu verstehen, in diesem Kontext meint Pannekoek wahrscheinlich nicht diese Naturphilosophie, sondern nutzt diesen Begriff einfach als veralteten Begriff für Wissenschaft.
  20. Hier Bezieht sich Pannekoek auf die Soviet Union
  21. "L'Occident doit à Marx et à Engels une édition monumentale de leurs œuvers" ist eine Einschätzung des Umgang mit dem Marx-Nachlass von der Soviet-Union, der Text wurde von Maximilien Rubel in Französisch verfasst.
  22. Dawid Borissowitsch Rjasanow (1870-1938), Russischer Marxist und Marxologe, war von 1920 bis 1931 Leiter des Marx-Engels-Instituts, wurde von seinem Posten in 1931 abgelöst und 1937 verhaftet wegen "Rechts-Trotzkismus" welches dazu führte, dass das Projekt der Marx-Engels-Gesamtausgabe für die Zeit stillgelegt wurde. 1938 wurde er von der Soviet-Union ermordet.
  23. Abkürzung für National Sozialismus.
  24. "Arbeiterräte", "Arbeidersraden" oder auch "Workers' Councils" ist ein Werk von Pannekoek welches sich mit der Organisationsstruktur der Arbeiterräte beschäftigt.
  25. Pannekoek war lebenslang Leninkritiker und hat viele Werke über Lenin und seine Theorien geschrieben, welches Werk er meint ist aber wahrscheinlich "Lenin als Philosoph", welches zuerst original in deutscher Fassung erschien 1938.

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